Originale Begegnung
„Ihr wollt z.B. diesem Kind die Geographie beibringen und holt Erd- und Himmelsgloben und -karten herbei: welcher Apparat! Wozu all diese Abbildungen? Warum zeigt ihr ihm nicht von Anfang an den Gegenstand selbst, damit es wenigstens weiß, wovon ihr mit ihm redet?“
(J. J. Rousseau in „Emile oder über die Erziehung“, 1763)
In den Zeiten des Internets und der zunehmend digitalen Ausstattung von Schulen scheint es oftmals verlockend, die belebte Natur auf digitale Weise in den Unterricht einzubinden. Dies hat sicherlich seine Vorteile – sind Phänomene, Lebewesen doch sofort in hochauflösender Bildqualität und komplexen Animationen betrachtbar. Durch die zunehmende Technisierung sind Phänomene präsentierbar, die mit den eigenen Sinnen nicht zu sehen und wahrzunehmen sind, sei es im Micro- oder Makrobereich der belebten und unbelebten Natur.
Bei allen Vorteilen und allen unterrichtlichen Bereicherungen, die moderne Medien mit sich bringen, bleibt auf reine Wissensvermittlung im Klassenraum reduzierter Unterricht zweidimensional.
Doch nicht nur im Klassenraum, auch in den häuslichen Lebenswelten der Kinder wird das Lernen über Medien immer präsenter.
Wissen, das auf diese Art angeeignet wird, vermisst jedoch die ganzheitliche Wahrnehmung und die Zeit, einem Phänomen zu begegnen, eigene Fragen zu stellen und selbst Antworten zu finden.
Lernen ist dann am effektivsten, wenn der Unterrichtsgegenstand aufmerksam wahrgenommen wird und eine intensive, individuelle Auseinandersetzung mit dem Gegenstand ermöglicht wird, idealtypischerweise in selbsttätiger Auseinandersetzung an und mit dem realen Objekt. Dementsprechend ergibt sich, dass eine originale Begegnung nicht nur auf die Präsentation oder Wahrnehmung eines Ausschnitts der Umwelt ist. Nach Roth ist eine originale Begegnung auch immer verknüpft mit einem originären geistigen Bezug. Auch Köhnlein spricht in dem Kontext des Sachunterrichts mit seiner Phänomenbegegnung von einer erforderlichen „Denktätigkeit“, die eine Beziehung zwischen dem Individuum und der Sache ermöglicht.
Fehlt diese Beziehung, besteht die Gefahr des „trägen Wissens“. Dieser Begriff beschreibt die Diskrepanz zwischen Schul- und Alltagswissen bzw. die fehlende Verknüpfung der beiden Wissensbereiche (vgl. Striley u.a. 1988). Was theoretisch in der Schule gelernt wurde, kann häufig nicht auf den Alltag übertragen werden oder zur Erklärung von realen Phänomenen herangezogen werden. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, originale Begegnungen in individueller Auseinandersetzung im schulischen Kontext - wo immer es realisierbar ist - zu ermöglichen.
Die originale Begegnung kann sowohl im Klassenraum wie auch in außerschulischen Lernorten erfolgen. Lebewesen z.B. können in den Sachunterricht der Grundschule gebracht werden wie auch auf Unterrichtsgängen beobachtet werden.
Lernorte in der Natur sind in zweifacher Hinsicht von Bedeutung:
Zum einen geht es um das „Erleben, Untersuchen und Reflektieren/Verinnerlichen von Naturphänomenen“. Durch die aktive, individuelle Auseinandersetzung mit der Natur nehmen sich die SuS zum anderen auch als Teil der Natur wahr und sind damit offener für eine nachhaltige Gestaltung des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur (vgl. Brade/Dühlmeier, Jahr 2015).
Für die Planung des Unterrichts ergeben sich aus der Forderung nach einer individuellen Auseinandersetzung in einer originalen Begegnung folgende Planungsschritte:
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Vorbereitungsphase:
Vorkenntnisse, Vorerfahrungen sammeln, Vorstellungen / Einstellungen klären, Intention des Unterrichtsgegenstandes transparent machen und fachspezifische Arbeitsmethoden vorstellen -
Handlungsphase:
Handlungsorientiertes, entdeckend-forschendes Lernen - möglichst so organisiert, dass das Lernen kooperativ und weitgehend selbstständig erfolgt -
Nachbereitungsphase:
Reflexion des Gelerntes, Klärung von Fragen für die Weiterarbeit, Dokumentation und Präsentation
Eine originale Begegnung kann je nach Kontext auch zu Beginn einer Auseinandersetzung sinnvoll sein, dürfte aber in der Regel eher zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen.