Leistungsbewertung im Sachunterricht - mehr als Zensurengeben
Die Frage nach Leistungen im Sachunterricht und ihrer Bewertung stellt sich nicht erst dann, wenn es um die Festlegung von Zeugnisnoten geht. Aus der Perspektive eines pädagogischen Leistungsverständnisses ist dies lediglich der Endpunkt einer langen Kette von Situationen, in denen Lehrerinnen und Lehrer sich mit den Leistungen ihrer Schülerinnen und Schüler kritisch auseinandersetzen müssen, jedoch nicht aus einer vergleichenden und auslesenden Sichtweise, sondern unter den Aspekten
der kritischen Reflexion und Revision des eigenen Unterrichts: Das Nachdenken über Leistungen einzelner Kinder sollte immer auch ein Nachdenken über die Möglichkeiten sein, die der eigene Unterricht dem einzelnen Kind zum Erbringen dieser Leistungen eröffnet hat.
der pädagogisch sinnvollen individuellen Lernberatung: In wie weit sind die erwünschten Leistungen für die Kinder transparent und subjektiv sinnvoll? Und wie sind sie individuell erreichbar?
Beides ist verknüpft mit dem Ziel bestmöglicher Förderung des Kindes. Fehler und Unsicherheiten werden als „Fenster auf den Lernprozess“ (H. Brügelmann) verstanden.
Leistung fordern und ermöglichen
Kinder sind von sich aus, unabhängig von äußeren Anreizen, zu Leistungen motiviert. Könnenserfahrungen sind ein menschliches Grundbedürfnis. Kinder stellen Leistungsanforderungen an sich selbst, indem sie sich den Herausforderungen ihrer Umwelt auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Ausmaß stellen. Sie erfahren ihre Leistungsfähigkeit und sind durchaus in der Lage, darüber zu urteilen.
Voraussetzung für das Erbringen solcher intrinsisch motivierter Leistungen ist aber, dass die Leistung und die mit ihr verbundene Anstrengung als subjektiv sinnvoll erlebt wird. Konsequenterweise dürfte Schule nur fordern, was das Kind „auch gerne leisten will und – ein schwieriger Gedanke – später gerne einmal geleistet haben möchte“ (Jürgens 1996). Angesichts der Heterogenität von Grundschulklassen muss der Unterricht Kindern unterschiedliche Möglichkeiten anbieten, Leistungen zu zeigen und die Sinnbezüge des Lernens für die Kinder klar herausstellen.
Leistungsanforderungen sollten daher „Hilfen im Lernprozeß unter dem Gesichtspunkt der Befähigung zur Selbständigkeit und Selbstbestimmung“ (Jürgens 1996) sein. In diesem Sinne sind auch Rückmeldungen über erbrachte Leistungen und Leistungsbewertungen zu verstehen.
Um welche Leistungen geht es im Sachunterricht?
Lernleistungen im Sachunterricht werden sowohl in Arbeitsergebnissen als besonders auch in Arbeitsprozessen erkennbar - das schließt Anstrengungen und Lernfortschritte ein. Sie drücken sich nicht nur in schriftlichen oder mündlichen Äußerungen, sondern auch in zeichnerischen Darstellungen oder Handlungen aus: Häufig können Kinder ihr Verständnis von Sachverhalten auf enaktiver oder ikonischer Ebene besser zum Ausdruck bringen als verbal. Leistungen im Sachunterricht umfassen deklaratives und prozedurales Wissen, Können, Verstehen und Einstellungen und Haltungen. Sie entstehen als Einzel- oder Gruppenleistung.
Vor allem wird die Qualität sachunterrichtlicher Leistungen erkennbar
in der interessiert fragenden Haltung gegenüber Phänomenen der Umwelt,
in sachlichen Versuchen des Erklären und Argumentierens,
im Austausch mit anderen und dem gemeinsamen Aufbau neuer Verständnisse von Phänomenen,
im Gehalt mündlicher Beiträge,
im zielgerichteten Entwerfen und Durchführen von Versuchen,
im kreativen Entwickeln von Problemlösungen,
im kriteriengelenkten Erfinden und Konstruieren,
in der themenbezogenen Recherche von Sachinformationen in verschiedenen Medien,
im sachgerechten Handhaben von Werkzeugen und Messinstrumenten,
in der verantwortungsvollen Pflege von Pflanzen und Tieren,
im kritischen Reflektieren und Bewerten eigener und fremder Arbeitsergebnisse und -prozesse,
in der adressatenbezogenen verbalen, zeichnerischen und handelnden Darstellung von Gegenständen, Sachverhalten und Zusammenhängen und
im sorgfältigen und verständlichen Dokumentieren von neu gewonnenem Wissen.
Inhaltlich wird der Horizont der Leistungen im Sachunterricht durch die fachlichen (und überfachlichen) Kompetenzerwartungen im Lehrplan (und in den Richtlinien) oder im Perspektivrahmen Sachunterricht beschrieben. Dabei sind konzeptbezogene (fachwissenschaftliche Themen und Konzepte) und prozessbezogene (Denk-, Arbeits- und Handlungsweisen) Kompetenzerwartungen unterscheidbar, die als Bildungsstandards auf unterschiedlichen Niveaus („Anforderungsbereiche“) formuliert werden können; sinngemäß werden hier mit steigendem Abstraktions- und Komplexitätsgrad drei Niveaus unterschieden, die auch als Maßstab der Leistungsanforderung für die Konstruktion differenzierender Lernaufgaben, der Diagnose und Bewertung von Schülerleistungen dienen.
Anforderungsbereiche und Bildungsstandards im Sachunterricht
AB I: Reproduzieren, Wiedergeben|Grundwissen anwenden, bekannte Informationen wiedergeben, etc.
Routinen ausführen, eine Versuchs- oder Bauanleitung umsetzen, etc.
AB II: Zusammenhänge herstellen|Zusammenhänge (z.B. zwischen Wirkfaktoren oder zwischen bestehendem Wissen und neuen Erfahrungen) erkennen und nutzen
erworbenes Wissen und bekannte Methoden miteinander verknüpfen, bestehende Erklärungsmuster mit neuen Verfahren überprüfen, etc.
AB III: Verallgemeinern, Reflektieren, Beurteilen|Regelhaftigkeiten erkennen und formulieren, Interpretationen und Beurteilungen einbringen, etc.
eigene Lösungsstrategien entwickeln, den Arbeitsprozess oder Lösungsweg reflektieren, etc.
Sachunterrichtsthemen sind in der Regel so komplex, dass Operationen auf allen drei Niveaus zu ihrer Bearbeitung erforderlich sind. Daher muss Sachunterricht so angelegt sein, dass das beschriebene mehrdimensionale Spektrum an Leistungsformen und -niveaus nicht unnötig beschnitten wird.
Leistungen im Sachunterricht feststellen
Zur Feststellung von Schülerleistungen genügt demnach nicht die Sichtung von Arbeitsergebnissen und Sachunterrichtsmappen oder informellen Tests. Dabei entsteht allerdings das Problem, diese Leistungen im laufenden Unterricht auch zu erfassen, um sie zu Zwecken der Lerndiagnostik und -beratung sowie zur Unterrichtsentwicklung nutzen zu können. Hier liegt für die Lehrkräfte eine Herausforderung, die geeignete Verfahren erfordert.
Zur Feststellung und Bewertung von verbalisierbarem Wissen sind Gespräche, Fragebögen, informelle Tests und Portfolios gut geeignet. Fachliches Denken und Handeln lässt sich mittels Beobachtungen, Gesprächen und ggf. Lerntagebüchern gut erfassen. Fertigkeiten sind in Präsentationen, fachlichen Produkten oder durch Beobachtungen überprüfbar, während sich Lernvorgänge, Interessen und Erfahrungen in Lerntagebüchern, Portfolios, Arbeitsprodukten und Gesprächen niederschlagen.
Notizen im Unterricht
Notizen im Unterricht dienen dem Festhalten sporadischer Beobachtungen (z.B. im pädagogischen Tagebuch) Unterstützend wirkt dabei ein vorbereitetes Raster, das zu der aktuellen Unterrichtsreihe erstellt wurde und über einfaches Ankreuzen eine Zuordnung der Beobachtung zu angestrebten Kompetenzerwartungen ermöglicht. Lehrkräfte sollten sich allerdings bewusst machen, dass sie diese Leistungen erheben, während das Kind noch mitten im Lernprozess steht („Raum des Lernens“; Matthias Jerusalem) und die Leistung sich nach Abschluss des Prozesses ganz anders darstellen kann („Raum des Leistens“; M. Jerusalem).
Beobachtungen im Prozess
Beobachtungen im Prozess können sporadisch durchgeführt und gesammelt (s. Notizen im Unterricht), aber auch systematisiert durchgeführt werden. Sie können u.a. Aufschluss darüber geben, wie Schülerinnen und Schüler strategisch an Problemstellungen herangehen, wie konvergent oder divergent ihre Lösungsansätze sind, welche Ziele und Handlungsmotive sie entwickeln, welche Fehler sie machen und wie diese zustandekommen, etc. Systematische Beobachtungen werden durch den Einsatz eines vorbereiteten Beobachtungsbogens unterstützt, der eine umfassende und möglichst vollständige Datenerhebung absichern soll. Wichtig ist, Beobachtungen (beschreibend) und Bewertungen (interpretierend) klar voneinander zu trennen.
Lehrer-Schüler-Gespräche
Lehrer-Schüler-Gespräche bieten die Möglichkeit, die Gedankengänge des Kindes hinter einem Arbeitsprodukt oder einer Handlung zu verstehen und z.B. die interne Logik eines anscheinenden „Fehlers“ aufzudecken, die sich etwa aufgrund eines Präkonzepts oder einer anderen Sicht auf den Kontext der Aufgabe ergeben hat. Sie können Aufschluss geben über die Selbsteinschätzung des Kindes und seine Annahmen über das Zustandekommen der Leistung (z.B. Selbst- oder Fremdzuschreibung). Wichtig ist eine geeignete Form der Dokumentation oder Notation durch die Lehrkraft (z.B. im pädagogischen Tagebuch).
Leistungspräsentationen
Leistungspräsentationen ermöglichen es den Schülerinnen und Schülern erworbene Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten zu zeigen. Dabei werden selbst erstellte und gestaltete Materialien (Plakate, Big Books, Hefte, Objekte oder auch digitale Formate) oder Vorführsituationen (Demonstrationsversuche, Konstruktionen, etc.) genutzt und ggf. mit einem Kurzvortrag (Schülerreferat) verbunden.
Präsentationen können Zwischenergebnisse zeigen und für das Kind dem Zweck dienen, von Lehrkräften und Mitschülern ein beratendes Feedback zu erhalten; in diesem Fall geben sie einen Einblick in die Gedankengänge des Kindes - ähnlich wie die Gespräche. Sie können aber auch am Ende des Lernprozesses ein erreichtes Ergebnis vorstellen, mit dem das Kind sich identifiziert und dessen Herstellung es ggf. mit reflektiert und bewertet.
Präsentationen dienen auch als Mittel, Leistungen der (Schul-)Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Lerntagebücher
In Lerntagebüchern halten die Schülerinnen und Schüler in Form subjektiver Texte, Zeichnungen oder Sammlungen ihre Lernerfahrungen zu einer Unterrichtsreihe oder zu einem Projekt fest und reflektieren Beobachtungen, Gedanken, Gefühle und Lernergebnisse. Für die Lehrkraft ergeben sich hier Einblicke in die Gedankenwelt der Kinder, die er als Beratungsanlässe nutzen kann. Dieses Verfahren stellt hohe Ansprüche an die schriftsprachlichen Kompetenzen der Kinder und ist im Grundschulbereich eher als Ausnahme vertreten.
Portfolios
Portfolios sind offenere Varianten des Lerntagebuchs. Sie dokumentieren Arbeitsergebnisse und -prozesse der Schülerinnen und Schüler und können eine Vielzahl unterschiedlicher Dokumentenformate enthalten, einschließlich Fotos, Videos, Tonaufnahmen, Zeichnungen und Objekten als Anlage. Je nach Zielsetzung und Vereinbarung zwischen Lehrkraft und Schülerinnen und Schülern können unterschiedliche Typen von Portfolios entstehen, z.B.
Projektportfolio,
Vorzeigeportfolio,
Lernentwicklungsportfolio (für die Sekundarstufe sind weitere Typen denkbar).
Umfang und Art der Einträge können durch Absprachen gesteuert werden, innerhalb derer die Kinder mehr oder weniger große Gestaltungsspielräume erhalten. Portfolios sind in der Regel Gegenstand eines (von der Lehrkraft in geeigneter Form zu dokumentierenden) Gesprächs, in dem die Leistungseinschätzung der Lehrkraft und die Selbsteinschätzung des Lernenden einfließen. Lernentwicklungen können bei Einsatz des Verfahrens über längere Zeiträume hinweg deutlich sichtbar werden.
Selbstbewertung
Bei der Selbstbewertung nehmen Schülerinnen und Schüler bezogen auf den Lernprozess und die Ergebnisse eine Einschätzung der eigenen Lernleistung vor. Da Grundschulkinder - in Abhängigkeit von ihrer Selbstwirksamkeitserfahrung - bei der Einschätzung ihrer Leistungen nicht sicher zwischen Selbst- und Fremdzuschreibungen differenzieren oder schlicht Anstrengung als Leistungskriterium wahrnehmen, ist die Transparentmachung von sachbezogenen Leistungskriterien zu Beginn einer Unterrichtsreihe von besonderer Bedeutung. Ebenso sinnvoll ist es, dass die Kinder sich vor Beginn des Lernprozesses ihr Vorwissen bewusst machen und dokumentieren, um anschließend einen Vergleichswert für die Selbsteinschätzung zu besitzen. Mit Hilfe von Begleitbögen kann dieses Verfahren auch formalisiert und ritualisiert werden; diese können dem sehr einfachen Schema folgen:
Das habe ich vorher gedacht.
So habe ich den Versuch gemacht. (oder worin immer die Lernhandlung besteht)
Das habe ich beobachtet / erfahren / etc.
So denke ich jetzt darüber. (Nach Kaiser 2007, S.179)
Allerdings ist dabei wiederum die schriftsprachliche Kompetenz zu berücksichtigen.
(Selbst-)Beurteilungsraster
(Selbst-)Beurteilungsraster enthalten in übersichtlicher Form (z.B. tabellarisch oder grafisch als Lernlandkarte) differenzierte Beschreibungen von Teilkompetenzen oder Leistungsbereichen, die durch die Lehrkraft und/oder die Schülerinnen und Schüler in Absprache als voll / teilweise / noch nicht erreicht gekennzeichnet werden. Auch hier bietet sich Gelegenheit zu kurzen Lernberatungen.
Lernkontrakte
Lernkontrakte stellen Vereinbarungen über das zu Lernende zwischen Lehrkraft und SchülerIn dar. Beide Seiten formulieren darin, was sie jeweils zum Gelingen des Lernens beitragen wollen, wie gearbeitet werden soll und woran der Erfolg des Lernens erkennbar ist. Lernkontrakte werden in der Regel für längerfristige Lernprozesse, v.a. auch zum Arbeitsschritten- und Sozialverhalten, geschlossen.
Eine vereinfachte Form, die auch inhaltliches Lernen betrifft, findet man häufig in den oft wochenplanartig strukturierten Lernbegleitern oder Logbüchern. Auch für kurze Lernsequenzen sind individuelle Lernkontrakte denkbar, indem z.B. jedes Kind zu Beginn der Sequenz im Kreis sagt, woran es wie arbeiten möchte und welches Ergebnis es sich vornimmt.
„Die Bewertungskriterien müssen den Schülerinnen und Schülern vorab in altersangemessener Form - z.B. anhand von Beispielen - verdeutlicht werden, damit diese Klarheit über die Leistungsanforderungen haben.“ (MSW 2008, S.20)
Veränderungen in der Lehrer- und Schülerrolle
„Wenn Funktionen der Kontrolle und Bewertung in den Lernprozess verlagert werden, ergeben sich notwendigerweise für Lehrer und Schüler eine Reihe ungewohnter Aufgaben und eine Veränderung ihrer Rollen zueinander sowie im Unterricht. [...] Vor allem dort, wo offene Unterrichtsformen praktiziert werden, sind die Mittel der Kontrolle zugleich Mittel der Strukturierung und Stützung des Unterrichts.[...] Sie haben nicht nur Bedeutung für das individuelle Lernen, sondern auch für den Erfolg des gesamten Unterrichts. Die Schüler werden daher verantwortliche Mitgestalter des Unterrichts in einem weit höheren Maße als beim herkömmlichen Unterricht und bei herkömmlicher Leistungskontrolle. Die Lehrer dagegen treten phasenweise gewissermaßen neben das Unterrichtsgeschehen, geben die Rolle als Vermittler des Fachwissens ab und werden Lernbegleiter und Lernberater. Das heißt nicht, dass sie weniger zu tun hätten, aber eben anders. Sie müssen nicht nur Fachperson für den Stoff sein, sondern auch für das Lernen.“ (Winter 2012, S.107).