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Informatische Themen im vielperspektivischen Sachunterricht

Oft wird im aktuellen Bildungsdiskurs gefordert, Kinder müssten Programmieren wie eine neue Kulturtechnik lernen, um im späteren Leben anschlussfähig zu bleiben. Das betrifft jedoch nur relativ wenige Schüler: Die meisten von ihnen werden keinen IT-Beruf erlernen. Die Lebenswirklichkeit aller Kinder ist aber durchdrungen von digitalen Artefakten, also digitalen Geräten, Medien, Automaten, Robotik-Anwendungen, Programmoberflächen etc.. Mit der schnellen technischen Entwicklung zunehmend suggerieren diese Artefakte intelligentes Verhalten und befeuern so magische Deutungen der Kinder.

Kinder sind so immer wieder mit Phänomenen konfrontiert, die Forschungs- und Entwicklungsgegenstand der Informatik sind. Neben dem Funktionieren digitaler Geräte und ihrer Programmierung befasst sich die Informatik im weiteren Sinne - wie jede andere technische Disziplin - zunehmend auch mit Nutzen, Kosten und Risiken digitaler Technologien, mit ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz sowie mit der kritischen Abschätzung ihrer Auswirkungen. Die Aufgabe einer Digitalitäts-Bildung liegt damit einerseits im Verstehen der Funktionsweise digitaler Phänomene als menschen-gemachte, mit bestimmten Absichten programmierte Artefakte (Wie funktioniert das? Wozu ist das gut?) und andererseits im kritischen Hinterfragen ihrer Entstehung und in der Bewertung ihrer Wirkungen.

Die der Informatik eigenen Denk-, Arbeits- und Handlungsweisen (DUH) „werden im Bildungsbereich gern als ‚computational thinking‘ bezeichnet (Wing 2008). Reale Probleme werden abstrahierend beschrieben, indem alle bestimmenden Faktoren isoliert, analysiert und als Daten erfasst werden; diese werden zu einem algorithmischen Modell verarbeitet, um z. B. Muster zu erkennen oder Prozesse zu automatisieren; die damit entstandene Problemlösung wird ausgeführt, evaluiert und ggf. weiterentwickelt. In diesem Vorgehen wird eine universell transferfähige Kompetenz gesehen, der als neuer Kulturtechnik ein überfachlicher Bildungswert zugeschrieben wird.“ (Bergmann 2023, 72)

Programmieren lernen ist kein Selbstzweck

Informatikdidaktische Ansätze für den Grundschulbereich verengen unter dieser Prämisse die Unterrichtsinhalte allerdings sehr häufig auf den informationstechnologischen Aspekt des Programmierens. „Programmieren ist das Formulieren einer Problemlösung in Befehlsanweisungen mithilfe einer Sprache, die automatisch in Befehle übersetzt wird, die ein Computer ausführen kann.“ (Wurm 2013, S. 23). Das Verstehen und der Erwerb dieser ‚Sprachewird als Schlüsselkompetenz und als Voraussetzung für die Teilhabe an bzw. den Zugang zu Bildung gesehen. Die im weiteren Sinne ebenfalls informatischen Fragen nach Nutzen, Kosten und Risiken, nach gesellschaftlicher Akzeptanz sowie nach Technikfolgenabschätzung und -kritik geraten dabei leicht aus dem Blick. Im vielperspektivischen Sachunterricht spielen diese Aspekte aus dem jeweiligen lebensweltlichen Kontext des Unterrichtsthemas heraus jedoch immer eine entscheidende Rolle. 

Didaktische Strategien zur Erschließung digitaler Artefakte als Unterrichtsgegenstand im Sachunterricht

Die Anwendung digitaler Artefakte ist Kindern vielfach vertraut; sie versuchen sie intuitiv zu benutzen oder sie beobachten andere bei der Nutzung. Dies geschieht in der Regel in einem lebensweltlichen Kontext, in dem Fragen nach der Anwendung und Bedienung im Vordergrund stehen (z.B. Wie geht das? Was kann ich damit machen?). Informatische Fragestellungen im engeren Sinne (z.B. Wie funktioniert das? Wie wird das gemacht?) bzw. im weiteren Sinne (z.B. Welcher Nutzen, welche Risiken sind damit verbunden - und für wen? Wie kann ich das meinen Bedürfnissen anpassen?) entstehen dabei zunächst gar nicht.

Für eine didaktische Erschließung muss der Gegenstand somit erst einmal „frag-würdig“ gemacht werden - das gilt hier wie bei vielen anderen Lerngegenständen des Sachunterrichts auch. Dazu bieten sich zwei grundsätzliche Strategien an, die sich in der Technikdidaktik bewährt haben.

Entdeckend-analytischer Zugang

Wie bei vielen anderen, nicht-digitalen technischen Artefakten (Geräte, Werkzeuge etc.) führt ein möglicher didaktischer Weg über die Analyse der Artefakte. Dieser umfasst mehrere, teilweise optionale Lernschritte:

Lernschritt

Leitfragen

die Beobachtung des regelhaften „Verhaltens“ des Artefakts (eine Demontage wie bei mechanischen Geräten ist kaum zielführend),

Was „tut“ das Gerät / Programm / etc.? Was geschieht wann, in welcher Reihenfolge?

die Beschreibung erkennbarer Funktionen und Wenn-dann-Beziehungen,

Was sind erkennbare Bedienelemente? Wie kann man es beeinflussen? Wo werden Wirkungen erkennbar? Was passiert, wenn…?

den Vergleich mit bauähnlichen Exemplaren,

Welche ähnlichen Geräte / Programme / etc. kennen wir? Was ist dort gleich, was ist anders?

die Abstraktion grundlegender Funktionen und Anwendungsmöglichkeiten innerhalb des jeweiligen lebensweltlichen Kontextes,

Wie und wozu kann man das Gerät / Programm / etc. benutzen?

die Hypothesenbildung über zugrunde liegende Wirkprinzipien,

Wie funktioniert das Gerät / Programm / etc.? Auf was reagiert es? Wie wirkt es?

die Entwicklung vereinfachender (algorithmischer) Modelle,

Wie wirken die einzelnen Teile (Elemente / Funktionen / Baugruppen / etc.) zusammen? Nach welchen Regeln geschieht das? Wie können wir das übersichtlich darstellen?

die konstruierende und gegebenenfalls variierende „Nacherfindung“ mit geeigneten Hilfsmitteln, z. B. zeichnerisch, sprachlich, als Funktionsmodell, darstellend (oder optional auch mittels kindgerechter Programmierumgebungen)

Wie können wir die einzelnen Elemente und ihr Zusammenwirken zeichnen, beschreiben, als Modell bauen, nachspielen (oder in der Programmierumgebung darstellen?

die kritische Reflexion von Anwendung, beabsichtigtem Nutzen und unbeabsichtigten Nebeneffekten.

Worin liegt der Nutzen des Geräts / des Programms / etc.? Wie aufwändig sind Beschaffung und Bedienung, Wartung und ggf. Entsorgung? Wie wirkt es sich auf unser Leben aus? Gibt es dabei unerwünschte Nebenwirkungen? Wie beurteilen und bewerten wir Nutzen und Risiken?

Problemlösend-produktiver Zugang (Modellieren / Programmieren)

Ein anderer Weg der Begegnung mit digitalen Artefakten führt über die Untersuchung wiederkehrender alltäglicher Tätigkeiten hinsichtlich einer möglichen Automatisierung (z. B. Blumen gießen, Kaffee kochen, Rollläden öffnen und schließen, Rasen mähen etc.). Elemente einer narrativen Didaktik können hier mit fiktionalen Handlungskontexten unterstützen (z.B. Mars-Erkundungs-Roboter, Schatzsuchroboter, Smarthome-Erlebnisse). Dabei übernehmen die Kinder eine Erfinder:innen- oder Entwickler:innen-Rolle, indem sie folgende Lernschritte durchlaufen:

„Beiden Ansätzen gemeinsam ist das Prinzip einer vielperspektivischen Erschließung von realen lebensweltlichen Erfahrungen mithilfe fachwissenschaftlicher (hier u.a. informatischer) Konzepte i.S. einer sachunterrichtsdidaktischen Rekonstruktion (Gervé 2022, 20). Von entscheidender Bedeutung ist, dass nicht nur lebensweltliche Exempel für informatische Konzepte gesucht werden, sondern der gesamte jeweilige lebensweltliche Kontext sachunterrichtlich thematisiert wird (z. B., dass aus dem umfassenden Kontext Verkehrssicherheit heraus eine Ampelkreuzung unter anderem auch aus informatischer Perspektive betrachtet wird).“ (Bergmann 2023, 74)

Während im ersten (entdeckend-analytischen) Zugang die Modellierung bzw. Programmierung („Coden“) optional ist, stellt sie im zweiten problemlösend-produktiven Zugang das Kernelement dar. Dennoch geht es auch hier nicht um Coden als didaktischem Selbstzweck („Kulturtechnik“), sondern um das Verständnis informatischer Artefakte in einem lebensweltlichen Gesamtkontext.

Lernschritt

Leitfragen

den betreffenden Handlungsvollzug analysieren und alltagssprachlich algorithmisch beschreiben,

Was ist in der vorgestellten Situation zu tun? Was muss wann, in welcher Reihenfolge geschehen? Welche Hilfsmittel (Geräte, Materialien etc.) werden in welcher Weise benutzt? Welche Regeln gelten dabei (z.B. immer wenn… - dann…) Wie können wir den Ablauf übersichtlich beschreiben (z.B. als Vorlage für eine Erfinderin / einen Erfinder)?

eine technische Vorrichtung (Maschine, Roboter) entwerfen, die alle identifizierten Einzelfunktionen abdeckt (eine produkttechnisch realistische Lösung ist hier nicht das Ziel, sondern die Berücksichtigung sämtlicher zuvor identifizierten Funktionen im Sinne des entwickelten Algorithmus)

Wie könnte eine Maschine / ein Roboter etc. aussehen, der den gewünschten Ablauf automatisch durchführt? Reagiert die Maschine automatisch auf Umweltgrößen (welche? Wie werden die Umweltgrößen aufgenommen (Sensoren, Messfühler etc.)) oder muss dazu etwas eingestellt werden? Was? Welche Bedienelemente (Schalter, Regler etc.) werden benötigt? Wie kommen die gewünschten Wirkungen zustande, welche Aktoren sind beteiligt (z.B. visuelle oder akustische Anzeigen, Motoren, Ventile etc.)?

die erforderlichen Befehle für die Maschine im Sinne einer „Programmiersprache“ gemeinsam beschreiben bzw. definieren

Welche Befehle muss die Maschine / der Roboter etc. in welcher Reihenfolge und nach welchen Regeln ausführen (umgangssprachlich formuliert)?

die alltagssprachliche Beschreibung der Abläufe in einer windgerechten Programmierumgebung (ggf. mit Hardwareerweiterungen wie Calliope mini oder Robotik-Modellen wie Lego Education Spike) in die vereinbarte „Programmiersprache“ übersetzen

Welche Befehle entsprechen dem in der gewählten Programmierumgebung? Wie stellen wir dort die Bedienelemente / Sensoren / Aktoren dar bzw. welche hardwaretechnischen Ergänzungen stehen uns zur Verfügung? Woran können wir erkennen, dass die programmierte „Maschine“ ihre Aufgabe wie gewünscht erfüllt, dass sie „richtig“ funktioniert?

im Transfer auf die technische Realität nach ähnlichen Produkten suchen und diese beschreiben

Wo gibt es in der Wirklichkeit ähnliche Maschinen / Geräte / Programme? Was ist gleich / ähnlich / anders?

ihre eigenen Erfindungen in die Alltagswirklichkeit projizieren und Anwendungsmöglichkeiten sowie beabsichtigte und unbeabsichtigte Technikfolgen reflektieren.

Worin liegt der Nutzen unseres Geräts / Programms / etc.? Wie aufwändig wären Beschaffung und Bedienung, Wartung und ggf. Entsorgung? Wie würde es sich auf unser Leben auswirken? Gäbe es dabei unerwünschte Nebenwirkungen? Wie beurteilen und bewerten wir Nutzen und Risiken?

Programmieren mit dem Ozobot

Im Gegensatz zu Maschinen, die ein einmal festgelegtes Programm umsetzen arbeiten die Lernroboter interaktiv mit Sensoren, die Gegenstände oder Farben erkennen und daraus eine Handlung ableiten. Das stellt für Kinder im Grundschulalter eine besonders hohe Faszination dar, da die Konsequenz des eigenen Programmierens und Problemlösens unmittelbar beobachtet werden kann.

Mgl. Didaktisch – methodisches Vorgehen im Unterricht:

  1. Den Lernroboter entdecken und wesentliche Funktionen verstehen
    1. Kurze Einweisung (z. B. Anschaltknopf, Kalibrierung, …)
    2. „ausprobieren“, (z. B. mit Hilfe von Entdeckerkarten für den Ozobot)
    3. Erkenntnisse sammeln und reflektieren: „Wie funktioniert der Lernroboter?“, „Was ist ein Code?“, „Gab es Probleme?“, …)
  2. Erste Programmierung
    1. Erste Steuerung „Wie kann ich dem Lernroboter einen Befehl geben?“
    2. Freie Erprobung einzelner Befehle und kurzer Befehlsketten (z.B. für den Ozobot aus Farbcodes mit Hilfe einer Codetabelle) nach eigenen Ideen der Kinder
    3. Erkenntnisse sammeln, Probleme reflektieren (z.B. „der Liniensensor erkennt die Linie nicht, wenn sie zu dünn gezeichnet ist“) und Lösungen diskutieren; Reflexion: Was der Lernroboter kann und was er nicht kann (fliegen, mit einer Schleuder Gegenstände schleudern, Essen kochen, …)
  3. Programmierung
    1. Eine Problemhaltige Situation dient als Ausgangspunkt für den Lernroboter: er soll an einem Gebäude kurz anhalten; der Roboter soll langsam fahren, da Geröll auf der Fahrbahn liegt; er soll an einer bestimmten Stelle wieder umkehren, …: Welcher Code könnte helfen?
    2. Erstellung und Erprobung einer algorithmischen Sequenz